Buchrezension
Rezension „Interkulturalität und Ethik – Der Umgang mit Fremdheit in Medizin und Pflege" (Hg.: Michael Coors, Tatjana Grützmann & Tim Peters, 2014)
Eva Jansen
Welche Rolle sollte das Thema „Migration" bei der Entwicklung universeller ethischer Prinzipien in Krankenhäusern spielen? Inwiefern ist es sinnvoll, kulturelle Hintergründe der Patientinnen und Patienten bei der Umsetzung ethischer Prämissen wie Patientenautonomie und shared-decision-making mit einzubeziehen?
Diesen Fragen widmen sich zwölf Autorinnen und Autoren im vorliegenden Buch, welches aus einer Tagung zum Thema „Das Fremde verstehen. Interkulturalität und ethische Konflikte in Medizin und Pflege" 2012 in Hannover am Zentrum für Gesundheitsethik entstand. Mit diesem Themenbereich leisten sie einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte um Ethik, Gesundheit und Migration mit einem speziellen, längst überfälligen Schwerpunkt auf der Behandlungssituation im Krankenhaus. Der Band beinhaltet multidisziplinäre Perspektiven der Autorinnen und Autoren, die zum einen theoretische Überlegungen in Anlehnung an Thesen aus der Gesundheitsethik, Philosophie, Soziologie und Ethnologie formulieren und zum anderen selbst an der Umsetzung von praktischen Ansätzen im Krankenhaus beteiligt sind. Dies spiegelt sich in einem theoretischen ersten und praktischen zweiten Teil im Band wider.
In der Einleitung definiert Michael Coors interkulturelle Begegnungen über damit verbundene moralische Konflikte und weist auf die daraus folgenden Schwierigkeiten der Medizinethik hin, konkrete Handlungsanweisungen auf abstrakte Prinzipien folgen zu lassen. Er folgt damit dem theoretischen Ansatz der Spezifikation von Prinzipien von Beauchamp und Childress. Im ersten, theoretischen Teil des Bandes befasst sich Walter Bruchhausens Beitrag mit einer differenzierten Klassifizierung möglicher kultureller Auseinandersetzungen im Bereich der Medizinethik, die seiner Ansicht nach der erste Schritt zur Beilegung von Konflikten ist. Sylvia Agbih beschreibt bereits etablierte Modelle in den Pflegewissenschaften, die Unterstützung gewähren, kultursensibel zu agieren und erläutert die Relevanz der Reflexion der Pflegenden selbst in diesem Prozess. Michael Knipper dekonstruiert in seinem Beitrag einen essentialistischen Kulturbegriff und warnt vor der „Kulturalisierung" von Vorgängen und damit der Stereotypisierung von Menschen mit einem Migrationshintergrund. Der durch eindringliche Fallbeispiele herausfordernde Beitrag von Christiane Imhof und Frank Kressing lehnt eine „Migranten-Medizin" ab, da die Gefahr der Verschleierung multikausaler Konfliktursachen aufgrund der Homogenisierung von Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, zu hoch ist. Im letzten Beitrag des ersten Teils plädiert Karl-Heinz Wehkamp dafür, hinsichtlich der systematischen Integration interkultureller Aspekte auch Institutionen und Organisationen in die Pflicht zu nehmen anstatt die Verantwortung alleine bei den tatsächlich Behandelnden zu belassen.
Der zweite, praktische Teil des Bandes beginnt mit einem Beitrag von Magdalena Stülb, welche empirische Ausschnitte aus ihrer Forschung zur Wahrnehmung von und Kommunikation über „Fremdheit" auf der Seite der Pflegenden präsentiert. Ilhan Ilkilic zeigt mögliche Konfliktlinien im Arzt-Patienten Verhältnis auf, um im Anschluss auf universalistische sowie individualistische Lösungsansätze einzugehen, wie sie in einer Ethikberatung häufig vertreten sind. Die kultursensible Ethikberatung ist auch das Thema von Tatjana Grützmann. Diese fasst in ihrem Beitrag differenziert Modelle der Beratung zusammen, und plädiert schließlich für die Einsetzung von internen Kulturmittlern und den Ausbau von Schulungen von Ethikberatern. Tim Peters verdeutlicht anhand einiger linguistischer und philosophischer Grundsätze, dass Sprache bereits eine kulturelle Ausdrucksweise ist und bestärkt damit die Rolle der Übersetzer in Krankenhäusern. Im letzten Beitrag geht Peter Saladin auf die Relevanz der Übernahme von Verantwortlichkeit der Führungsebene in Krankenhäusern ein und zeigt anhand der Schweizer Strategie zu Migration und Gesundheit, wie ein Erfolgsmodell aussehen kann.
Eine der Hauptkonfliktlinien, die in dem vorliegenden Buch herausgearbeitet werden, ist die Relevanz von „Kultur" bei der Erstellung ethischer Prämissen für den Gesundheitsbetrieb im Krankenhaus. Darunter fällt unter anderem die Definition von Patientenautonomie, Selbstbestimmung und die Transparenz bezüglich der Chancen auf Behandlungserfolg und shared-decision-making. Hier ist eine Uneinigkeit zwischen den Befürwortern der generellen, systematischen Integration von kulturellen Aspekten festzustellen (Bruchhausen, Wehkamp, Saladin) und dem demgegenüber kritischen Ansatz, der einen Schwerpunkt auf individuelle Heterogenität legt und sich mit der Verlagerung oder „Kulturalisierung" von Konflikten auseinandersetzt (Imhof und Kressing, Knipper). Die meisten Autorinnen und Autoren arbeiten im Krankenhaus und werden in ihrer täglichen Arbeit mit dem Thema Migration konfrontiert. Einige von ihnen beziehen sich auf diese Arbeit, analysieren konkrete Konfliktfälle und stellen deren Lösungen vor. Dadurch haben Leserinnen und Leser die Möglichkeit, sich selbst ein Bild darüber zu machen, inwiefern Kultur nur ein weiterer „Faktor" der als individuell zu behandelnden Patientinnen und Patienten ist oder einen Aspekt darstellt, der spezifischer und zusätzlicher Beachtung bedarf. Die Beiträge von Knipper, Stülb, Imhof und Kressing, Agbih und Ilkilic sind hier als besonders positiv hervorzuheben. Ihnen gelingt es, anhand von konkreten Beispielen oder systematischer Forschung darzustellen, inwiefern die differenzierte Betrachtung eines spezifischen Falles den sozialen und historischen Hintergrund eines Menschen kontextualisiert.
Die meisten Autorinnen und Autoren sehen die Notwendigkeit der organisatorischen Anpassung eines Krankenhauses an die kulturelle Vielfalt seiner Patientinnen und Patienten und heben dabei den Schulungsbedarf der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hervor. Sie widmen sich der Frage, welche konkreten Maßnahmen die Gesamtsituation verbessern können. Dazu gehören die Verantwortlichkeit der Führungsebene und der Institution, eine kultursensible Ethikberatung, sowie der Einsatz von Kulturmittlern und Dolmetschern (Wehkamp, Ilkilic, Grützmann, Peters oder Saladin). Jedoch wird nur am Rande angeschnitten, welche Rolle die sich in den letzten Jahren verstärkende Migration auf Seiten des Krankenhauspersonals selbst einnimmt. Dazu zählen zum einen die Pflegenden aber auch die Ärzteschaft, welche auf Grund des Ärztemangels in vielen Fachbereichen größtenteils erst nach dem Studium aus dem Ausland rekrutiert wird. Dadurch erscheint die Behandlungssituation mit ihren multiplen Vorerfahrungen, Bewertungsprozessen und Evaluationen weit komplexer.
Insgesamt erhalten die Leserinnen und Leser durch die Lektüre dieses Bandes einen Überblick über grundsätzliche Fragestellungen und Dilemmata einer modernen und globalen Medizinethik aus multidisziplinären Perspektiven. Es bietet sich an, dies als Ausgangspunkt zu nehmen, um daran anschließende Fragestellungen konkret zu fassen und empirisch zu untersuchen. Vorstellbar wäre eine ethnographische Untersuchung über die Diskursivierung von Patientenautonomie (oder einer anderen aktuellen Prämisse der Medizinethik) im globalen Feld Krankenhaus. Daraus ließen sich konkrete Anhaltspunkte ableiten, inwiefern bei diesem Aspekt der Migrationshintergrund der sich im Krankenhaus befindenden Menschen eine Rolle spielt.
Autorin
Dr. Eva Jansen, Medizinethnologin, forscht zu folgenden Themen: Migration von Ärztinnen und Ärzten, medizinische Unterversorgung, Komplementärmedizin und psychische Erkrankungen in Deutschland. Ihre Dissertation verfasste sie über Praktiken der Naturheilkunde in Südindien. Momentan unterrichtet sie in der Ethnologie an der Universität Tübingen und arbeitet in der Allgemeinmedizin an der Universität Magdeburg.